Text

Prof. Eugen Gomringer,

Zu den Faltungen von Françoise Pierzou

Die Kunstkritik unterschied früher einmal die geometrische Abstraktion einerseits von der lyrischen Abstraktion andererseits. Mit dem Existenzialismus jedoch ging die Abstraktion neue Beziehungen ein. Die physische Natur der Wirklichkeit drängt in die Kunst und entwickelte die Aktion, die Gestik, den Impuls und das Zeichen. Die geometrische Abstraktion bzw. die geometrisch konkrete Gestalt überlebte in ihrer kühlen, klaren Region und verfeinerte ihre Methoden. Auch wenn sie heute eine Minderheit darstellt, existiert sie weiter im Bewusstsein, eine Philosophie als Grundlage zu besitzen, um sich einer Welt, die täglich lügnerischer, trivialer und gewalttätiger wird, widersetzen zu können. Heute stehen wir in einer Ausstellung, welche diese Minderheit der Kunst, d.h. einer logischen Kunst, mit Poesie und Sinnlichkeit bereichert und gleichzeitig erneuert.

Vor fünf Jahren, anlässlich einer Ausstellung von Françoise Pierzou im Ulmer Museum war es am Ende eines Einführungstextes angebracht zu bemerken: "Auf neue Formulierungen ihres Raum- und Weltverhältnisses wird man nicht lange warten müssen." Die wenige Bildobjekte, die damals den Ausblick in die Zukunft andeuteten, bezeichnet im Katalog als "Acryl auf gefalteter Leinwand", wurden von mir als Beweise einer angebahnten, überzeugenden Entwicklung eingeführt. Heute wissen wir mehr über diesen Entwicklungsschritt. Die Künstlerin hat an diesen Bildobjekten weiter gearbeitet. Eine Saat ist aufgegangen, ein Konzept gereift. Aus den ersten Versuchen ist eine eigenständige Bildformulierung geworden, nennen wir sie einmal: Autonome, sich selbst gliedernde Bildobjekte - oder: in sich selbst gefaltete Bildwerke.

Diese Formulierung ist zweifellos das Ergebnis einer persönlichen Impression. Es dürfte ja nicht stimmen, dass sich die Bildobjekte während der Nacht einmal, zweimal oder mehrmals selbst gefaltet oder gegliedert haben. Im Gegenteil: Jede Faltung, jede Umklappung ist in Form und Farbe beabsichtigt, kalkuliert und in einer taghellen Werkstatt realisiert worden. Trotzdem vertraue ich auch der in mir entstandenen Bezeichnung mit der reflexiven Wendung des " sich selbst". Es ist mein Eindruck, dass sich diese Objekte wie natürliche Früchte gegliedert und dann gefaltet haben. Auch hängen sie ja wie reife Früchte im Raum und scheinen im Umgang mit Wänden einen viel freieren Bezug zu haben als normale, rechteckige Bilder. Es scheint auch jedem Objekt ein eigenes Baugesetz inne zu wohnen und sich in ihm zu entfalten. Allein die Beobachtung, dass die einen Objekte sich mit zwei Faltungen und Umklappungen, andere mit deren drei manifestieren, lässt auf eine mögliche Schematisierung in dieser Kunstbiologie schließen. Sprachlich wird man überdies Schwierigkeiten haben, die stattgefundenen Vorgänge adäquat zu bezeichnen, indem z.B. eine Rückwärtsklappung durchaus mit der sichtbaren Vorderseite übereinstimmt, die zuerst vorgenommene Vorwärtsklappung jedoch die Rückseite der Vorderseite anbietet.

Der natürliche Vorgang, der darin besteht, ein bestehendes Stück Papier, Stoff oder wie in diesem Fall Leinwand zu falten und einen oder mehrere Teile umzuklappen, ist seit alters her gegeben. Von den Papierfaltungen der Japaner bis zu Josef Albers Grundkursübungen am Bauhaus wären viele Vorzüge der Faltertätigkeit aufzuführen. Auch fällt auf, dass sich junge Künstler nicht selten der Methode des Faltens bedienen, sich dieser Methode bewusst sind, ohne in ihr allerdings das zentrale Prinzip der Gestaltung zu sehen, wie dies für Françoise Pierzou gilt. Durch Faltung entsteht Stabilität. Durch Faltung entsteht auf die einfachste Weise, ohne aufwändige Hilfsmittel, Flächenteilung. Anders jedoch als bei einer Flächenteilung in der Ebene entsteht durch die Faltung und Umklappung eines Teiles ein virtuelles dreidimensionales Gebilde. Falten ist deshalb im Sinne von aufbauend ein echt konstruktiver Vorgang.

Françoise Pierzou begann mit dem zweimaligen Falten eines Streifens, und zwar in der Weise, dass die beiden Falze parallel verliefen, woraus wiederum folgte, dass auch die beiden Enden des Streifens ihre Parallelität beibehielten. Das S-förmige Band, das durch diese spezielle Art der Faltung entstanden war, wies also verschiedene gestalterische Qualitäten auf. Zum Beispiel ergeben die Linienverläufe der Flächenumrisse durch ihre Überschneidungen, durch ihre Unterbrechungen Hinweise auf komplizierte phänomenologische Verhältnisse. Wer zuhause oder am auswärtigen Arbeitsplatz viele Briefe zu falten hat, kommt dieser Kunst der gefalteten Leinwände ein bisschen auf die Spur. Zwischen zweimaliger Querfaltung für einen Umschlag in Längsformat oder einer zweifachen Faltung mit senkrecht aufeinander stehenden Falzen für das Verpacken in einem normalen kleinen Briefumschlag besteht ein großer Unterschied in der Gewohnheit wie oft auch in der Erscheinung und des Ansehens. Und auch an einem so einfachen Beispiel wie dem gefalteten Brief wird das Phänomen der Rückseite evident. Eine Problematik ähnlich derjenigen um Innen und Außen bei räumlichen Künsten wird angesprochen. Die Mehrschichtigkeit ruft Spekulation hervor.

Nun können diese Probleme zweifellos auch in der Ebene durch illusionistische Zeichnung angedeutet werden. Die konkrete Lösung jedoch, der Tatbestand der Überlappung und Überschneidung, wird nur durch die konkrete Handlung und mit Hilfe eines konkreten Materials geschaffen. Es ist eine der bemerkenswertesten Leistungen von Françoise Pierzou, diesen Schritt der konkreten Faltung zum eigenständigen Bildobjekt gefunden und gewagt zu haben. Im Repertoire der Permutationen konkreter Möglichkeiten und konkreter Methoden kann man über ihre Erfindung nicht hinwegsehen.

Nicht außer acht lassen möchte ich folgende Überlegung - und damit komme ich zurück auf meine Eingangsformulierung vom "autonomen, sich selbst gliedernden Bildobjekt", die ich ja selbst etwas angezweifelt habe. Das vieleckige, vielgliedrige und vielfarbige Bildobjekt ist gerade durch seine - im Vergleich mit dem üblichen rechteckigen Außenformat der Bilder - komplizierte Gestalt unabhängiger von Einflüssen der Umwelt. Wo immer es angebracht wird, ist es zuerst einmal ein Ding an sich. Paradoxerweise ist dies aber auch ein Grund für eine freiere Kombinationsmöglichkeit. Denn immer gibt es in diesen Objekten Achsen oder längere Linien, ob am Rande oder im Inneren, welche sich in Beziehung bringen lassen mit Linien der nächsten Umwelt, also mit Hauskanten, Türen, Decken und Böden. Die Künstlerin hat in der Konzeption ihrer Werke ein jedes für sich ausgerichtet, in der Regel nach einer inneren Achse. Ich glaube dennoch an die inhärente Möglichkeit der Mehrachsigkeit, wenn auch nur als theoretische Möglichkeit.

Die Objekte von Françoise Pierzou sind sozusagen frei hängend, frei schwebend, rahmenlos, ballastlos, leicht im Raum wie auf dem Transport, vielseitig verwendbar als Wandbilder, vielseitig im Sinne des Wortes. Und die Farbe? Streng genommen wären diese Objekte auch als materialfarbene Faltungen interessant. Attraktiv jedoch sind sie zusätzlich durch die freie, subjektive Farbwahl und Malweise der Künstlerin, die überdies freimütig bekennt, dass sie es oft mit den Jahreszeiten hält: Bei schönem Wetter wählt sie andere Farben als bei grauem Winterwetter. Und dies instinktiv. Es sind also doch natürliche Objekte, auf künstliche Weise entstanden.

Ich glaube, Kunst von Frauen und durch Frauen ist Kunst von Frauen durch Frauen. Was Niki de Saint Phalle dramatisch macht, bringt kein Mann fertig, und was Françoise Pierzou lyrisch macht, ist nicht Kunst von einem François, sondern von einer Françoise. Ihre wundersamen Faltungen hat ihr kein männlicher Künstler vorgemacht, viel eher waren es die Generationen weiblicher Genies, weiblicher Geschicklichkeit und weiblichen Geschmacks, die den Umgang mit einem schlichten Material zu einem Material der Kunst und zu heutigen Kunstwerken werden lassen.

Wenn Kunst noch immer beanspruchen darf, im gesellschaftlichen Bezug Symbole der Freiheit und der Unabhängigkeit zu schaffen und vor Augen zu halten, gestehen wir diesen Faltobjekten, unterstützt durch die Attraktivität ihrer Erscheinung, einen ungewöhnlichen ästhetischen und gesellschaftlichen Rang zu. Andererseits - theoretisch verstanden - ist diese Kunst nicht Synthese von physischer Natur, Gestik (d.h. vitaler Impuls) und Zeichen, ist sie nicht Ausdruck auf logischer Basis, auf der Basis geometrischer Abstraktion? Diesen Stellenwert, meine ich, gilt es besonders zu bedenken. Wir kehre damit zum Grundsätzlichen zurück.

April 1986

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