Nelly RudinNelly Rudin






Das Werk der Schweizer Künstlerin nelly rudin - konsequent konkret


Herkunft Schweiz

Bis vor wenigen Jahren hielten sich Beobachtungen und Kritiken über das Werk von nelly rudin im Rahmen der Schweizer Öffentlichkeit. Doch seit ihrer ersten Ausstellung in der Galerie 58 in Rapperswil im Jahr 1968, welcher Hans Heinz Holz eine eingehende Besprechung widmete, folgten sich Ausstellungen in zunehmender Dichte, sodass die Künstlerin auch im Ausland, vornehmlich in Deutschland, mehr und mehr als eine der führenden Vertreterinnen ihrer Generation der Konkreten Kunst anerkannt wurde. Mit ihrem Werk verbindet sich die Vorstellung einer eigenständigen, erfinderischen Entwicklung der rational-sensiblen Zürcher Konkreten Kunst.
nelly rudin absolvierte von 1947 - 1950 die Ausbildung in grafischer Gestaltung und Typografie an der Kunstgewerbeschule Basel. Diese lapidare biografische Notiz könnte fast generell, mit den Varianten Basel oder Zürich, für den Beginn der Laufbahn eines Schweizer Künstlers der Konstruktiv Konkreten Kunst Gültigkeit haben. Denn kaum einer der bekannten Künstler des logischen Konzepts und der präzisen Ausführung hatte nicht einmal diese "Grundschule" durchlaufen. Bis die Begriffe "Kommunikation" und "visuell" auch da aufgenommen wurden, war man noch Gebrauchsgrafiker und gehörte einem angesehenen Stand an. Selbst max bill, ein Mentor der Künstlerin, der sonst seinen Kollegen von der Grafik nicht immer hold war und oft vor deren schnellem Umsetzen kunstgeborener Ideen nachdrücklich warnte, nahm nach der Rückkehr vom Bauhaus Dessau nach Zürich, 1928, die Bezeichnung "Grafiker" unter anderem mit auf in sein neues Tätigkeitsgebiet, wobei er auch in dieser Sparte immer wieder großartige Leistungen vollbrachte.
Es spricht für die angehende Künstlerin, dass sie, wie Hans Heinz Hold in der erwähnten Besprechung es beschreibt, sich der Gefahr besonders bewusst gewesen sein muss, "in der jede mit einfachen geometrischen Elementen arbeitenden Kunst steht: die Gefahr, nur einen mehr oder weniger gelungenen plakativen Effekt, eine Art optischen Initialreiz zu liefern und dann eine enttäuschende Leere zurückzulassen." Also wartete nelly rudin, die als Grafikerin bereits eine weitherum geschätzte Persönlichkeit mit vielen beruflichen Erfolgen war, bis sie mit 36 Jahren im Jahr 1964 "Bilder" malte und ab 1968 diese auch ausstellte.
Die lange Vorbereitung sollte sich lohnen, denn bald wurde in Zürich von einem Sextett der Konkreten Kunst gesprochen: von bill, graeser, Lohse, Loewensberg, Vivarelli und rudin. Als sie 1972 ausstellte und zweiundzwanzig Originale und zwei Serien Siebdrucke zeigte, wurde sie gleich von der Kritik zum "wesentlichen Mitglied" dieser Gruppierung ernannt. Mit ihren Zirkelschlaglösungen fand sie immer wieder neue Kompositionen. Hans Neuburg, einer der fachlich exaktesten Berichterstatter, sah es als ganz erfreulich an, "wie sie in die Bögen erspürte und errechnete Zäsuren einfügt, wie sie aber auch eine den Rundungen entsprechende farbliche Abstimmung vornimmt, wie freudig sie sich mit den Variationsmöglichkeiten beschäftigt, um die konkrete Thematik durch immer neue Spielarten zu bereichern."
Diese Charakterisierung erinnert daran, dass nelly rudin innerhalb der Zürcher Konkreten einer neuen Generation angehörte, auch wenn bei den oft verwandten Problematiken und Lösungen und den Rückgriffen auf frühere Konzepte der einzelne Künstler sich gleichsam Parallelen einstellen mussten. Die Generation von nelly rudin begann sich bereits in den Fünfzigerjahren zu artikulieren, lehnte sich aber respektvoll an die vorangehende, an die so genannte zweite Pioniergeneration der Konstruktiv Konkreten Kunst an. Ausdruck der neuen, also der dritten Generation waren Manifestationen wie die Zeitschrift "Spirale", die seit 1953 in Bern erschien, und die Schrift "Kalte Kunst?" von Karl Gerstner aus dem Jahr 1957, worin der Autor in seinem "Standort der heutigen Malerei" auf die neuen Anfänge hinwies: "Anfänge sowohl von Einzelnen, als auch solche, die eine Entwicklung als Ganzes betreffen." nelly rudin, die erst Jahre später zu malen begann, wurde noch nicht erwähnt, aber zweifellos gehört sie nun zu den neuen Anfängen. In der Folge wird sie in Zürich denn auch den jüngeren Konkreten zugezählt, die sich gegenüber der kunstkonkreten Öffentlichkeit trotz maßgebender Vaterfiguren zu behaupten vermögen. Sie wird überdies auch immer dann präsent sein, wenn es gilt, diesen für die Schweiz international wichtigen Beitrag zu vertreten. Bestätigt wurde diese Anerkennung durch die Verleihung zweier international angesehener Preise: den Preis der camille graeser-stiftung in Zürich, 1989, und den Will-Grohmann-Preis der Akademie der Künste Berlin-Brandenburg, 1993.

Die Brüche in der Kontinuität
Es wird in Rückblicken oft der Eindruck erweckt, als wäre die Kunst der Zürcher Konkreten - und einer Anzahl Künstler dieser Richtung in der übrigen Schweiz - in den Vierziger- und Fünfzigerjahren von sozusagen staatstragender Bedeutung gewesen. Sicherlich feierte sie Momente internationaler Auszeichnung und kunsthistorischer Festschreibung, auch wirkte sie über andere Kanäle, zum Beispiel über Produktgestaltung in das Alltagsleben und - in naher Verwandtschaft - über Konkrete Poesie in die literarische Avantgarde; in größeren Überblicken jedoch wird einer Richtung wie dem "Informel" mehr Platz eingeräumt. Die Konkrete Kunst hatte überdies begonnen sich aufzusplittern in Spezialgebiete wie etwa die Op-Art und die kinetische Kunst mit ihren Verzweigungen in andere Gestaltungsbereiche. Als max bill 1960 in Zürich mit der Ausstellung "konkrete kunst, fünfzig jahre entwicklung" Bilanz zog, wurde, je nach Standpunkt, nicht nur die Ausschließlichkeit, ja noch vielmehr die sichtbar beginnende Öffnung kritisiert. Die Brüche in der Kontinuität waren da. "Ausstieg aus dem Bild" und "Wiederkehr der Außenwelt" waren Schlagworte für ein früher nie gekanntes Tempo in der Kunstgeschichte. Zwar waren Konstruktive und Konkrete Kunst - als "konstruktive Tendenzen" (Rotzler) - längst auch auf anderen Kontinenten heimisch geworden und zeigten da wiederum zum Teil ganz eigene neue Anfänge auf, aber diese konnten sich nicht mehr so geschlossen als Anfänge zu einer "Entwicklung als Ganzes" oder gar als ethische Brücke zu einem neuen Menschen verstehen.
Was als Weltsprache der Abstraktion zu einem großen Kapitel einschlägiger Abhandlungen wurde, war nicht mehr die übernationale Sprache der Geometrie und der Mathematik in ihrer rationalen Sensibilität und präzisen Realisierung. Der Protest der Konkreten Kunst, so von einem solchen bei zahlreichen, über die Welt verstreuten Einzelnen gesprochen werden konnte, drückte sich in einer stillen Selbstbehauptung und Haltung aus, vor allem jedoch in der Überzeugung, dass sich das Potenzial eines intuitiven Konstruktivismus gar nie ausschöpfen ließe und Spielraum bleibe für ungeahnte ingeniöse Erfindungen. Solche Erfindungen konnten und können keine neuen Schlagworte erwirken, sie werden der Schicht der leisen Entwicklungen zugerechnet, sind aber, wo sie beobachtet werden, Anlass zu ästhetischen, oft mehr noch naturwissenschaftlichen Meditationen. Die großen Existenzfragen werden damit nicht angesprochen, wohl aber spezielle Fragen der Sinnesorganisation und der Wahrnehmungsfähigkeit. Wenn sich die dritte Generation, wie sie Karl Gerstner ankündigte, behauptet hat, dann mit Werken solcher Erkenntnisbereiche. nelly rudin, bekannt als stille, selbstkritische und zähe Arbeiterin an ihrem Werk, ist trotz der Umgebung der älteren Gesinnungsgenossen, die mittlerweile alle verstorben sind, eine dieser Einzelnen geworden. Sie reflektiert die Geschichte der Konstruktiv Konkreten Kunst und findet Aufgaben und Lösungen auf ihre persönliche Weise.

Erste Konzentration auf Bilder: Quadrat, Kreis, Farbe
Die Erweiterungen des konstruktiven Bereichs, welche die neue Generation im Zeitraum der Sechzigerjahre auf individuell unterschiedliche Weise erprobte, nahmen ihren Ausgangspunkt in vielen Fällen bei den Urformen Quadrat und Kreis - was übrigens auch für spätere, ja heutige Anfänge immer wieder gilt. Die Bilder, die nelly rudin in ihren ersten Ausstellungen zeigte, gingen ebenfalls davon aus (zusätzlich der Erweiterung zum Rechteck). Sie besetzte das Feld der Konkreten Kunst gleich mit zwei bemerkenswerten, von den Auguren richtig eingeschätzten neuen Bildtypen. Sie teilte die Kreisfläche mit scharfgeschnittenen Formen - ihr erster Kritiker Hans Heinz Holz brachte sie in Beziehung mit Hard-Edge - in Ausschnitte beziehungsweise Anschnitte mehrerer Flächenkörper, die zusammen die Einheit einer Kugelgestalt erweckten. Mit konzentrischen Kreisbögen suggerierte sie irritierende progressive Vorstellungen, wie sie später Morandini wieder aufnahm. Der Zirkel erwies sich überhaupt mit Schwung und Gegenschwung, wie in barocken Grundrissen, als beherrschtes Spielmittel der Künstlerin. Diese kreisförmigen Gestaltungen fanden im "Umkreis" des Quadrates statt, bezogen aber auch fallweise die Restflächen in Form und Farbe mit ein.
Mit dem zweiten, vom Quadrat ausgehenden Bildtypus brachte nelly rudin ebenfalls eine Thematik ein, die in ähnlicher Schärfe zuvor von der Konkreten Kunst nicht aufgenommen worden war, nicht auf den Punkt gebracht, ja eher sogar vermieden wurde. Es war das Thema der fortgesetzten Vertauschung von Vordergrund und Hintergrund, die nicht als Mit-Effekt entstand, sondern zu einem intentionalen Gegenstand der Gestaltung gemacht worden war. Die Künstlerin bewirkte diese Vertauschung durch die mäandernde Wiederholung gleicher quadratischer und dreieckiger Formen in Schwarz-Weiß. Damit war nun zugleich einer der für die neue Generation wichtigen Grundsteine gelegt, nämlich die wechselnde Individualisierung von Bildern durch die Farbbehandlung auf gleicher strukturaler Ordnung. Der Farbbehandlung kam also ausschlaggebende Bedeutung zu bei der Unterscheidung innerhalb der Variationsmöglichkeiten, die damals als Bereicherung der Spielarten der konkreten Thematik auffielen. nelly rudin wurde auf einen Schlag bekannt, und ihr Name erweiterte die Aufmerksamkeit auf die Konkrete Kunst.
Sie hatte sich mit diesen beiden Bildplänen, beruhend auf Quadrat und Kreis, eine längerfristige Vorgabe erarbeitet, die durch Kombinationen zu Werkgruppen ausgebaut wurde. In den Quadraten erschienen zum Beispiel diagonale Farbkreuze als doppelt geführte Farbstränge mit dem Effekt der optischen Mischung. Oder die anfängliche in Schwarz-Weiß aufgereihten Quadrate und Dreiecke erwiesen sich nun als Vorläufer von zusammengesetzten Bildern aus Quadraten, die wiederum unter sich unterschiedlich aufgeteilt waren durch Geraden und Bögen. Diese erste, fruchtbare Periode dauerte mehr als zehn Jahre. nelly rudin hatte bewiesen, dass auf der Grundlage von Quadrat und Kreis sowohl durch die Methode wie die Kombinatorik als auch durch sensible Farbbehandlung ganz authentisch neue Aspekte eingeführt werden konnten.

Neue Bildträger mit Seitenflächen
Einer der entscheidenden Abschnitte im Werk von nelly rudin und der Bilderfindung der neueren Konkreten Kunst setzt 1976 mit zwei Momenten ein: mit der Materialwahl von Aluminium und dem Rahmen als Bildträger. Leinwand, Aluminium, später noch Acrylglas - die Erweiterung der Materialien deutet bereits auf den Objektcharakter der Arbeiten hin, der zukünftig bestimmend wird. Dass der Rahmen ins Bild mit einbezogen wird, ist in der Geschichte der Rahmen bekannt, seit es frei bewegliche bildhafte Darstellungen am Ende des Mittelalters gibt. Doch bei nelly rudin findet das bild nicht im Rahmen seine Fortsetzung, sondern "die Rahmenobjekte erlauben mir, das Bildhafte von der Fläche (Wand) in den Raum zu transportieren (dort, wo sonst Bild "stattfindet", ist Leere, und umgekehrt ist dort, wo der Rahmen ist, Bild). Was gewöhnlich Randzone ist, wird zum eigentlichen Bild." Diese lapidare, unprätentiöse Darstellung der Künstlerin hält ihr Problem klar fest. Der Vorstoß in den Raum weg von der Wand ist an sich ebenfalls ein Dauerproblem der Kunst. Die Frage ist, wie der Schritt durchgeführt wird. Und im zweiten Teil des Statements, der noch wichtiger ist, fällt der Begriff "Randzone" ins Gewicht. Ihm ist mehr als eine Bedeutung beizumessen. Margit Weinberg Staber hat in einer (nicht publizierten) Studie über das Werk von nelly rudin diesem Begriff auch sinnbildlichen Wert zugeschrieben: "Es scheint, als hätten sich bemerkenswerte Interessen der Konstruktiven und Konkreten Kunst in Randzonen der ihr möglichen, elementaren Konzepte verschoben." Ob die bemalten Metallrahmen sozusagen verallgemeinernd für Randzonen belangt werden können, ist eine interessante Perspektive, auf alle Fälle ist de Entdeckung für nelly rudin eine solche geworden.
Mit den Metallrahmen beziehungsweise den Rahmenobjekten wird die Abkehr von einem Bildinneren radikal vollzogen. Was vom Rahmen eingerahmt wird, die Leere, ist ein Beliebiges, das immerhin noch ein Separiertes ist. Dies ist auch ein Vorbote der Transparenz, die ein weiteres "Markenzeichen" für nelly rudins Kunst werden sollte. Doch ihr ging es ja auch um den Abstand von der Wandfläche. Sie löst das sehr überzeugend durch farbliche Teilung sowohl der Innenflächen wie der Außenflächen des Rahmens, sodass sich in der Zusammenschau der diagonalen Hälften eine von der festen Wand schräg abstehende Wand visuell definieren lässt. Die Malerei des Rahmenobjekts hat nur noch insofern mit der festen Wand zu tun, als sie sich davon abheben kann. nelly rudin setzt ihr erstes Rahmenobjekt auf das Jahr 1976 fest.
Ein Jahr später wird in der Werkgeschichte das erste seitlich bemalte Bild vermerkt. Mit dem Unterschied, dass das "Bild" eben noch Binnenfläche aufweist, geht die Bemalung wie beim Rahmenobjekt weiter. Die farbigen Vorderflächen werden über den Rand gezogen, wobei sich mehrere Möglichkeiten der Verbindung von Farbfläche der Vorderseite mit den Randflächen ergeben und von der Künstlerin einfallsreich benutzt werden. Der "Rahmen" beziehungsweise die Bildtiefe ist eindeutig keine Nebensache mehr. Für den Betrachter ergibt sich die Situation, nun seinerseits das ganze Bild inklusive Rand wahrzunehmen. Er sucht sich die durch die Kanten unterbrochenen Farbflächen zusammen, um immer wieder von neuem um diese Kanten herumgezogen zu werden. Die Künstlerin kommt ihm insofern entgegen, als sie diese Bilder über Eck stellt, womit mehr Seitenflächen gleichzeitig in den Blick fallen. Mit den Rahmenobjekten und den seitlich bemalten Bildern hat sie auf ihre Art Ursachen der Bewegung um das Bild geschaffen. Im Gegensatz zu aufwendigen kinetischen Apparaten löste sie dieses Problem der neuen Realität mit geringem Aufwand und analytisch sauber. Die pragmatische Schule der Konstruktiv Konkreten Kunst - vor allem Schweizer Herkunft - besticht mit solchen Lösungen in schönster Weise.
Wenn nelly rudin den Bildern Tiefendimension verleiht, Tiefe wie bei den Rahmenobjekten, entstehen auch aus Bildern Bildobjekte. Damit nicht genug - die Varianten mehren sich über alle Jahre -, können der Bildfront an den vier Seiten unterschiedliche Höhen unterbaut werden, so dass auch in diesem Fall, nun aber realistisch, die Frontfläche nicht parallel zur Wandfläche steht. Mit unterschiedlich hohen "Chassis", wie sie die Unterbauten der Frontfläche bezeichnet, wird erreicht, dass ein unregelmäßiges Objekt mit all seinen Irritationen entsteht. Es ist ersichtlich, welche neue Sehweise, objektbezogen, die Künstlerin als Angehörige der dritten Generation beschäftigt. In direkter Linie ist da auch kein Vorfahre auszumachen.

Transparenz und weitere Öffnungen
nelly rudins Kunst ist bereits bei ihrem ersten Erscheinen durch die Farbbehandlung im Kreis der Konkreten Kunst aufgefallen. Nach konkreter Tradition stellt sie Primärfarben oft frisch und hart nebeneinander oder gegenüber. Dennoch verwendet sie gleiche Farben aber auch auf feine luzide Weise. Ihre Palette kennt Töne von weiblicher Feinheit. Auch ganze Bildflächen können von transparenter Farbigkeit sein. Nicht nur formale Experimente, auch die Farbe und ihre Anwendung sind in der gesamten Werkübersicht in Bewegung. Eine wesentliche Erfahrung zeichnete sich seit etwa 1980 ab: Die Erfahrung, dass Farbflächen sich durch Farblinien oder kleine, voneinander getrennte Farbflächen - Quadrätchen - ersetzen lassen, wobei dem Bild das neutrale, leuchtende Weiß zugewiesen wird. Es ging auf neue Öffnungen und konkrete Transparenz zu.
Das Jahr 1982 steht gleich mit zwei neuen Objektformen in der Liste der Entwicklungen. Zu den quadratischen Bildobjekten treten jetzt Bildobjekte in Dreiecksform. nelly rudin reizt die sakrale Form des Dreiecks zu Gegenmaßnahmen. Sie will sie aus der Starrheit in Bewegung versetzen, in Schwingung. Mit zahlreichen unterschiedlichen Unterteilungen der Frontfläche in Farbfelder, farbige Randzonen oder farbige Kantenübergriffe löst sie das gewohnte Bild des Dreiecks auf. Es entsteht ein vielfältiges, neues Objekt, das den Betrachter, der vom quadratischen Objekt herkommt, wiederum auch neu fordert. Sicherlich wird mit all diesen Vorgängen des In-Bewegung-Setzens tradierter Formen durch Teilungen und Farbpartikel - an den bekannten Formen wird aber doch immer noch festgehalten - eine Entwicklung eingeleitet, die von einer relativen Transparenz durch Auflösung zu einer konkreten, realistischen Transparenz führt. Seit 1982 entstehen denn auch Objekte aus Acrylglas.
Die Transparenz, die nelly rudin vermutlich unbewusst schon immer vorgeschwebt hat - auch dies im Gegensatz zum nie in Frage gestellten Bild der vorangehenden Generation der Konkreten -, wird mit einem Objekt ganz aus Acrylglas erreicht. Das Material würde es erlauben, auch irreguläre Formen einzusetzen: Ein Schritt, wie ihn Vantongerloo, ermittelt durch seine fundamentalen Reflexionen, unternommen hatte. Hier erweist sich die Schule der Konkreten in der Schweiz als die rationale, pragmatische Grundlage, welche mit regulären Formen künstlerische Realität vollzieht. nelly rudin bleibt beim Dreieck, das als Pyramide dreidimensional wird; beim Quadrat, das zum Kubus wird, und beim Kreis, der zum Kreisring wird. Und dies nicht als verpasste Chance zu mehr skulpturaler Bewegung. Wer konsequent konkret denkt und arbeitet, richtet sich nach dem Gesetz der Ökonomie, wie es vielleicht zuletzt Josef Albers formuliert hat: "Das Maß der Kunst: Die Proportionen von Aufwand und Wirkung." Im Übrigen geht es nelly rudin um ganz bestimmte Effekte, die sie mit den regulären geometrischen Formen am besten erreicht, zum Beispiel um die Reflektion von Farben auf Kanten, um Lichtbrechung von Flächen zu Flächen. Auch die Kontrolle des Betrachters, der das Wandern von Farben im transparenten Objekt untersucht, ist durch gegebene, fixierte Verhältnisse im formalen Bereich sozusagen maßgerecht gesichert. nelly rudin nennt es eine freudige Entdeckung: "es erlaubt eine exakte Farbgebung, die dann auf irrationale Weise in Erscheinung tritt."
Eine weitere Öffnung qua Transparenz griff logischerweise auch auf das andere Material über, auf das Aluminium. Sie hat aus Aluminium Rahmen wie auch Kuben geschaffen, aber im Sinne der Fortsetzung ist die Auflösung geschlossener Flächen durch Winkel ein wahres Phänomen. Sie definiert eine rechtwinkelige Fläche durch einen einzigen Winkel, und dank der Erfahrung mit den ungleich hohen "Chassis" ist dieser Winkel im Scheitelpunkt am höchsten und seine beiden Schenkel laufen in dünne Spitzen langsam aus. Indem sie vier solcher Winkel mit ihren Scheitelpunkten in kleinem Abstand zueinander fügt, erhält sie eine neue, weit ausstrahlende Figur, ein im Mittelpunkt definiertes, unsichtbares Objekt. Ungleich lange Schenkel der rechten Winkel ergeben eine - nimmt man die Schenkelspitzen als Punkte einer Linie - polygonale Figur. Wieder erfindet die Künstlerin über mehrere Jahre Kombinationen und Systeme der Anordnung: Reihen senkrecht und waagrecht, Winkel in der Diagonale und in der normalen Mittellinie. Auch die lang erprobten Wirkungen der Farbgebung als Flächen oder Linien finden ihre Anwendung und lassen die Winkelsysteme von den verschiedensten Seiten beobachten. Zusätzlich zu den Wirkungen der Körperfarbe ist nun auch die Schattenfarbe der Winkel in die mehrdeutige optische Erscheinung einzubeziehen.

Ein Fazit zu ziehen, ist bei der durch und durch kreativen Veranlagung von nelly rudin nicht am Platze. Wohl aber zeigen Grundzüge einer Werkübersicht, was sie bewegt - und was sie bewegen will. Was sie "macht", kann sie selbst in drei verständlichen Sätzen darstellen. Es schließt als Dokument des Machens aus, woher Impulse kommen. Das wissen wir auch nur zum Teil, nur soweit die Herkunft Schweiz, die Herkunft aus der Schweizer Konkreten Kunst, die selbst wiederum eine Herkunft in der Konstruktiven Kunst der Welt besitzt, herangezogen werden kann. Die übrige Herkunft, wie die Präzision der formalen Logik, die rationale Analyse, wie sie zum emotionalen Ereignis werden, ist Kunst. In diesem Fall eben konsequente Konkrete Kunst.

Eugen Gomringer: Nelly Rudin - Randzonen: innen ist außen - Bilder und Objekte, Zürich 2000

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